Als Frau in ihren Dreißigern musste ich zuletzt entsetzt feststellen, dass ich erst in den letzten Jahren viel über Frauen* und ihre Sexualität erfahren habe. Nachdem ich mich mit Freund*innen über dieses Thema unterhalten habe, habe ich gemerkt, dass es nicht nur mir so geht. Aber warum hat das so lange gedauert? Mit diesem Kommentar versuche ich, diese Frage zumindest teilweise zu erörtern.
Nur „Ja” heißt “Ja”
Sex beinhaltet Konsens. First Things First – Wir müssen zuerst die Bedingungen klären, bevor wir über Sexualität sprechen können.
Besonders fiel mir nämlich auf, wie viele Menschen nicht wissen, dass Sex und Sexualität immer Konsens aller Beteiligten einschließen. Liegt der Konsens nicht vor, dann handelt es sich schlichtweg um Gewalt. Kurz zur Info: Konsens bedeutet so viel wie Übereinstimmung einer Meinung, oder auch Einwilligung zu einer bestimmten Frage. Naturgemäß bedeutet das, dass ein Mensch nur einwilligen kann, wenn er körperlich, psychisch sowie diskriminierungsfrei dazu im Stande ist. In einer von Machtstrukturen geprägten Situation kann ein Mensch genauso wenig Konsens erteilen, wie im Zustand der Bewusstlosigkeit. Ebenso ganz wichtig: „Nein“ als Antwort bedeutet übrigens auch nicht „überrede mich“! Und auch wenn eine Person zunächst mit sexuellen Handlungen einverstanden war, kann sie ihre Meinung jederzeit ändern. Das muss das Gegenüber ohne Diskussion akzeptieren. Nachdem die Konsensfrage jetzt geklärt ist, können wir uns in diesem Artikel weiter mit Sexualität beschäftigen.
Der weibliche Körper – ein Rätsel?
Oh Stopp! Es gibt noch ein paar Basics, die wir uns auch anschauen müssen. Hand aufs Herz: Wie genau kennt ihr den weiblichen Körper? Ich meine damit die Funktionsweisen und die Anatomie. Seid ihr euch zum Beispiel sicher, wie die Gebärmutter aussieht? Oder kommen bei der Frage schon erste Zweifel? Falls ja, dann schämt euch nicht. Das ist nämlich ein Ergebnis unseres Bildungssystems und der Gesellschaft. Ich habe in Liv Strömquists Buch „Der Ursprung der Welt“ folgende spannende Fakten zur Geschichte, Forschung und Bildung über den weiblichen Körper gelesen, die ich mit euch teilen möchte.
Beginnen wir in der Antike. Zu dieser Zeit wurden die Erotik und Sexualität nämlich als „göttliche Gabe“ angesehen.
Später zu Zeiten des christlichen Theologen Augustinus (4. Jahrhundert) stand Sexualität für den „Verrat an Gott“. Außerdem war Augustinus der Meinung, dass die weibliche Lust und die weiblichen Geschlechtsorgane entgegengesetzt dem Göttlichen seien. Somit erklärte er die Frau als „sündig und unrein“.
Hach, und dann switchen wir ins 15.-18. Jahrhundert zu den Hexenprozessen. Um entscheiden zu können, ob „jemand tatsächlich eine Hexe ist“, wurden die Geschlechtsorgane der verdächtigen Person betrachtet. Hatte diese weibliche Geschlechtsorgane, dann sprach alles für ihr Sein als Hexe.
Liv erzählt in ihrem Buch außerdem von Herren, die gegen die weibliche Sexualität arbeiteten. John Harvey Kellogg (1852-1943) zum Beispiel. Er schrieb Geschichtsbücher, in denen er verbreitete, dass Selbstbefriedigung zu Gebärmutterkrebs, Epilepsie, Wahnsinn und allgemein zu mentaler und körperlicher Krankheit führen würde. Dr. Isaac Baker-Brown (1811-1873) hatte als „Lösung“ dafür einen besonders makabren Gedankengang. Er entfernte Frauen einfach operativ ihre Klitoris, um sie von Hysterie, Kopfschmerzen, Depressionen und (ACHTUNG!) „Unfolgsamkeit“ zu befreien. „Unfolgsam“ war eine Frau zum Beispiel auch, wenn sie sich von ihrem Mann scheiden lassen wollte. Das Schlimme daran: Diese Operationen waren weit verbreitet und fanden in den USA bis 1948 statt. Sogar 5-jährige Mädchen wurden operiert, damit sie sich nicht „selbstbefriedigen“. Ich bin sprachlos.
Liv Strömquist zeigt auch auf, dass erst 1998 die Erforschung der Klitoris als eigenes, sehr wohl auch riesiges Organ stattfand. Unvorstellbar, dass diese Forschung erst seitdem begonnen hat. Trotzdem wird die Klitoris in Lehrbüchern übrigens meist noch immer falsch dargestellt.
Passend zur fehlenden Forschung und Bildung über weibliche Geschlechtsorgane noch ein paar „Fun Facts“:
- 1972 hat die NASA Informationen zum Leben auf der Erde mittels einer Raumsonde ins Weltall entsandt. Das war quasi eine Information an Außerirdische, was sie sich vom Leben auf der Erde erwarten können. Dabei war auch eine Abbildung eines nackten männlichen und eines nackten weiblichen Körpers. Während beim männlichen Körper deutlich der Penis und die Hoden ersichtlich sind, fehlt dem weiblichen Körper die Vulva gänzlich. Warum?
- Apropos „Vulva“: Vagina und Vulva sind nicht dasselbe, so wie viele Menschen glauben. Die Vulva ist der sichtbare, äußere Bereich des weiblichen Geschlechts. Also alles, was ihr selbst sehen könnt. Die Vagina hingehen ist nur ein Teil der Vulva. Die Vagina ist das schlauchförmige Organ, das durch den sichtbaren Scheideneingang zum innenliegenden Muttermund und der Gebärmutter führt. Kurz gesagt: Vulva: Außen, Vagina: Innen.
- Vor der Aufklärung dachte man, dass der Orgasmus der Frau notwendig sei, um schwanger zu werden. Das war auch der Grund dafür, dass der weibliche Orgasmus große Beachtung fand. Nach der Aufklärung konnte die Medizin diese Fake-News widerlegen, und Schwups war auch nur noch der männliche Höhepunkt wichtig. Damit ging auch einher, dass Frauen* ab dann für jegliches Verhalten als „Huren“ beleidigt wurden und nur noch der vaginale Orgasmus von Bedeutung war.
Ihr fragt euch vielleicht, warum ich euch diese nicht vorhandene Forschung und Lehre über den weiblichen Körper so prominent erzähle. Ich tue das deshalb, weil die Stigmatisierung der weiblichen Geschlechtsorgane und des Hormonstoffwechsels sowie die Tabuisierung der weiblichen Sexualität dazu beitragen, dass Frauen* sie nicht offen ausleben. Tun sie das doch, dann werden sie dafür oftmals verurteilt. Die Menschen fürchten sich auch 2024 noch immer vor dem Unbekannten. Und wenn das auch „nur“ der Körper der eigenen Freundin ist…
STOPPT „Slutshaming“
Damit kommen wir auch schon zu einem weiteren Phänomen, das leider oft mit der freien weiblichen Sexualität einhergeht. Frauen*, die ihre Sexualität offen leben und erleben, sich kleiden, wie sie möchten, und dies auch kommunizieren, werden von anderen Menschen oft beleidigt. Im Gegensatz zu männlichen CIS-Personen, die dasselbe tun. Diese Personengruppe ist privilegiert und kann ihre Sexualität schon seit jeher offen leben und präsentieren. Eigentlich werden sie nicht nur nicht beleidigt, sondern sogar dafür gefeiert, viele Sexualpartner*innen zu haben oder sich freizügig zu kleiden. Die Intoleranz gegenüber Frauen*, die dasselbe tun, nennt man „Slutshaming“ und das ist eine Form des „Victim Blaming“. Mit diesen Beleidigungen gibt man Frauen* die Schuld dazu beizutragen (potenziell) Opfer von Gewalt zu werden. Wir haben es also hier mit Schuldzuweisungen zu tun. Den Begriff „Slutshaming“ gibt es übrigens seit den 2010er Jahren. Damals hatte ein Polizist den Student*innen der Universität Toronto geraten, „sich nicht wie Schlampen zu kleiden“, damit ihnen keine sexualisierte Gewalt widerfährt. Daraufhin formierten sich weltweit sogenannte „Slutwalks“, um mit Protesten auf diese Täter-Opfer-Umkehr aufmerksam zu machen.
Ich denke, dass viele Frauen* auch aufgrund des „Slutshamings“ ihre Sexualität nicht erkunden und auch nicht offen leben können und wollen. Viele Menschen kennen den Begriff „Slutshaming“ vielleicht nicht, sind aber ganz vorne dabei, wenn es darum geht, dieses zu betreiben.
Die richtige Sexualität und das richtige Sexualleben gibt es nicht!
Die Popkultur will Frauen* seit jeher vorgeben, wie sie ihre Sexualität zu leben hätten. Diesen Abschnitt möchte ich aber nur in Kürze beantworten. Und zwar: Vergesst alles, was auch die Film- und Medienindustrie über das Sexualleben erzählen möchte. Jeder Mensch bestimmt individuell, wie, wann, wie oft, mit wem und nicht zuletzt, ob dieser Mensch Sex haben möchte (einschließlich Konsens). Aja, und dazu gehört auch, dass natürlich nicht nur „normschöne Menschen“ begehrenswert sind.
Wir halten also fest:
- Du möchtest keinen Sex haben? Fein!
- Du möchtest One Night Stands haben? Fein!
- Du möchtest alles ausprobieren? Fein!
- Tu das, was du möchtest. Aber verletzte dabei keinen und achte auf deine und die Sicherheit aller Beteiligten.
Zum Schluss: Ein Plädoyer für ein Sexualleben, wie DU es möchtest.
Ich weiß, dass es schwer ist, nach all diesen Brocken an schlechten Zuständen, die ich vorhin aufgezählt habe, für ein Sexualleben nach deinen Wünschen zu werben. Ich glaube aber dennoch, dass viele Frauen* dazu ermutigt werden können, wenn sie sich zum einen Bildung zu diesen Themen verschaffen und diese vorantreiben. Außerdem hilft es immer, wenn wir Frauen* Banden bilden. Sprich, wir uns verteidigen, wenn wir Slutshaming mitbekommen. Dass wir uns gegenseitig aufklären, wenn wir merken, dass grundlegendes, wichtiges Wissen über Sexualität, Konsens und den weiblichen Körper fehlt. Und vor allem, dass wir niemals leise sein werden, wenn uns unsere freie, selbstgewählte Sexualität kollektiv abgesprochen wird.
Quellen:
Liv Strömquist, der Ursprung der Welt (2017)